Das Buch von Markus Wipperfürth übers Ahrtal
Der Lohnunternehmer, Landwirt und mittlerweile zum Social-Media-Star avancierte Markus Wipperfürth aus Pulheim bei Köln hat ein Buch verfasst: „Wegen dir bin ich hier“. Er beschreibt darin die Bewältigung der Katastrophe nach der schlimmen Sturzflut am 14. und 15. Juli 2021 im Ahrtal.
Mindestens 134 Menschen wurden getötet, Hunderte verletzt. Ein ganzer Landstrich wurde entlang der Ahr überschwemmt. Manche Häuser standen bis zum Dach unter Wasser, andere gibt es nicht mehr. Geschätzt 65.000 Menschen sind betroffen. Viele Überlebende sind traumatisiert. Die Bundesregierung und die Länder haben Hilfen in Höhe von 30 Milliarden Euro auf den Weg gebracht.
Markus Wipperfürth half als einer der Ersten vor Ort. Er filmte das live.
Und jetzt das Buch. Sandra Fischer, Journalistin und Mitarbeiterin der Rhein-Zeitung, hat es ein Jahr danach als Ghostwriterin aus der Ich-Perspektive Wipperfürths geschrieben. Ihr zufolge liegen mittlerweile an die 4.000 Vorbestellungen über eine Website vor. Für ein Buch zum Preis von 34,95 Euro. Das im wesentlichen Inhalt aus Links zu Videos und der Nacherzählung dieser Live-Videos besteht.
Hier meine ausführliche Rezension – inmitten einer weiterhin aufgeladenen Atmosphäre.
Ich schreibe eine lange Fassung, die ich für fundiert und sachgerecht halte, bewusst nur mit wenigen enthaltenen Videos, Fotos und Links. Denn darum geht es mir in diesem Text: die Zurückhaltung und schriftliche Analyse, fernab vom Social-Media-Getöse. Andererseits kann auch dieser Beitrag nur via Social Media oder klassischen Medien Verbreitung finden. Ein Dilemma.
Markus Wipperfürth, Jahrgang 1973, war direkt nach der verheerenden Sturzflut am 14./15. Juli 2021 im Ahrtal einem bundesweiten Publikum bekannt geworden: Mit jenen Live-Videos direkt vom Traktor schaltete er sich seit dem 15. Juli mehrmals am Tag auf Facebook ein. Er dokumentierte, kommentierte und koordinierte Hilfseinsätze vieler freiwilliger Helferinnen und Helfer. Zahlreiche Videos gingen viral. 469.000 Facebook-Friends zählt er noch heute, dazu zählen 269.000 „Gefällt mirs“. Das sind immense Zahlen einer neuen Öffentlichkeit. Bei seinen Live-Schalten waren zeitweise 12.000 Zuschauer gleichzeitig zugegen. Viele kommentierten wiederum für alle sichtbar im Chat.
Zeitversetzt erreichten einzelne Videos Millionen von Zuschauerinnen und Zuschauern.
Die mediale Wirkung war durch ihn besonders in den ersten Tagen größer als die von etablierten Medien wie SWR oder ZDF. Gleichzeitig koordinierte er von Beginn an über Telefonate, Chats und Aufrufe tatsächlich einen Großteil der freien Helferinnen und Helfer. Er verzeichnete zeitweise und glaubhaft 400 Anrufe am Tag, wie auch auf seinen Videos im Sekundentakt zu hören und in den Chats nachzulesen ist. Ein enormer Druck auf einen Menschen auf einem Traktor, mit einem Handy in der Hand.
Seit vergangener Woche habe ich das Buch vor seinem eigentlichen Erscheinungstermin lesen können: 224 Seiten. Oder besser: gelesen und zusätzlich gesehen. Denn darin enthalten sind mehr als 180 QR-Codes, „Q-Ahr-Codes“ genannt. Die vielen Links führen zu Live-Videos von damals und zu teilweise nachträglich bereitgestellten Aufnahmen, die seinerzeit nicht live gesendet wurden – ein „packendes zeitgeschichtliches Dokument“, heißt es in der Ankündigung.
Ich war und bin da skeptisch.
Das Durcheinander von später bereitgestellten Videos unter neuem Datum und alten Gigs dürfte sich nicht jedem erschließen. Aber andererseits bin ich angesichts der Wucht und Gewalt der Katastrophe auch neugierig:
Nach einem vielleicht nur 1000-jährig vorkommenden Ereignis mit mindestens 134 getöteten Menschen im Ahrtal und so vielen Schicksalen;
gleichzeitig einem einzelnen Menschen mit einem funkenden Technikknochen in der Hand in den ersten Stunden und Tagen der Not folgend;
lässt sich das auch mehr als ein Jahr nach der Flut in einem Buch sichten, gewichten, sortieren, einordnen?
Ich schreibe diese Frage jetzt schon wie jemand aus der örtlichen Social-Media-Szene, im Stile einer anklagenden und bekannten empörten Fragestellerin mit einem gewissen Duktus über lange Sätze über mehrere Absätze.
Tatsächlich habe ich das Buch dankbar und durchaus bewundernd aus der Sicht eines Journalisten und ständigen Befürworters neuer Medien und Formate realisiert. So viel steht fest: Facebook Live wurde von Markus Wipperfürth als neues Format etabliert.
Nur was ist das Ergebnis nun als Buch? Wie ist es einzuschätzen?
Im ungewöhnlichen Format DIN-A4 quer: „Wegen dir bin ich hier“, das Buch von Markus Wipperfürth.
Transparenzhinweis: Als freier Journalist habe ich seit der Katastrophe bei der Öffentlichkeitsarbeit der Landesregierung Rheinland-Pfalz mitgearbeitet. Unter anderem baute ich die Webseite wiederaufbau.rlp.de mit auf und betreue sie noch. Die Seite diente und ist ein Serviceportal zu Fragen der Wiederaufbauhilfen für Betroffene. Dazu gehörten und gehören auch Social-Media-Veröffentlichungen – und somit entwickelte sich schon aus beruflichen Gründen ein Interesse an allen Social-Media-Aktivitäten im Ahrtal. Für einen anderen Kunden, 247GRAD Labs aus Koblenz, schrieb ich im vergangenen Jahr eine Einschätzung des Facebook-Live-Formats mit Blick auf Wipperfürth. Mit ihrer Social-Media-Software dirico hat die Agentur bei den Ministerien der Landesregierung bereits vor der Katastrophe und vor Corona ein Werkzeug für die Handhabung von Social Media eingeführt – mit mir als externen Projektleiter. Für diese Rezension, die ich klassischen Medien anbiete, gab mir Wipperfürth das Buch digital vorab.
Worum es geht
Wer nur ein einziges Video von Markus Wipperfürth über die beispiellose Hilfsaktion im Ahrtal nach der Naturkatastrophe im Juli 2021 sehen möchte, um die mediale Wirkmächtigkeit seiner Live-Übertragungen, den Charme des Bauern und auch die Mentalität der freiwillig Helfenden im Ansatz zu verstehen, sollte dieses Video oder Ausschnitte aufrufen:
https://www.facebook.com/486021428226080/videos/199894678839442.
In 65 Minuten streamt der Unternehmer einmal mehr live; hier: wie Helfende am Tag 38 nach der Sturzflut in Walporzheim ein vergessenes Haus entdecken. Ein älterer Herr im Rollstuhl war fünf Wochen nach der Katastrophe in sein Wohnhaus zurückgekehrt – und mit den Schlammmassen im Gebäude überfordert.
Das Besondere: Die Helfergruppe von 30 Männern und Frauen stellte spontan ihre Feierabendgetränke zurück, organisierte an jenem Samstagabend einmal mehr schweres Gerät, Schaufeln, Notstrom, Licht. Binnen weniger Viertelstunden entkernten die Männer und Frauen das Gebäude, gefilmt von Wipperfürth und angefeuert und geherzt von Tausenden Zuschauerinnen und Zuschauern an ihren Handys. Viele waren gerührt. Der Landwirt interviewte live vom Geschehen einzelne Helfer. „Alle bekloppt, die ziehen das jetzt durch“, sagte ein Disponent mit Mikrofon über der Schulter. Übers Netz organisierten Facebook-Teilnehmer live Ersatz für den defekten E-Rollstuhl des Mannes. Am Ende kamen sogar drei solcher Rollstühle zusammen. In einem der Interviews berichtet einer der Helfer zusätzlich von 170 Autos, die seit Beginn der Katastrophe gespendet worden waren, und eines war nun auch speziell für den älteren Herrn im Rollstuhl geeignet. Beeindruckend, zu Herzen gehend, diese Menschlichkeit.
Ironischerweise ist gerade diese herausragende Szene über Heinz, den Rollifahrer, die so viel über die Ahrtal-Hilfe erzählt, im Buch nicht als QR-Link auffindbar – womöglich ein Versehen angesichts der immensen Zahl an aufgenommenen Videos. Vielleicht ist es aber auch mein Lesefehler. Denn bei 181 Videos, vielen Stunden an Material, können schon mal Szenen untergehen. Zahlreiche Videos habe ich damals live oder zeitversetzt verfolgt, jetzt übers Buch neu entdeckt, als schon bekannt abgebrochen, manche neu kennengelernt und mache gar nicht erst aufgerufen – weil es schlicht sehr, sehr viele Videos sind.
Möglicherweise ist dies ein kritikwürdiger Punkt an dem Buch: 181 Videos sind auch über diese papierne Zusammenstellung im Nachhinein nicht in Gänze erfassbar, zumal es sich um unzählige Stunden Live-Aufnahmen und somit Rohmaterial handelt. Einen journalistischen Grundsatz, das Große groß und das Kleine klein darzustellen, habe ich vermisst. Die Texte erzählen die Videos, sie heben aber nicht wirklich das Wichtige hervor.
Solche emotionalen Videos stehen jedoch grundsätzlich im Mittelpunkt des Buches: QR-Codes, die übers Handy bei der Lektüre eingescannt werden können und zu den Live-Videos von damals verzweigen.
Der Katastrophenhelfer Wipperfürth lässt seine Leser noch einmal als „Katastrophentouristen“ an dem Geschehen teilnehmen – verwackelt und gelegentlich mit Tonproblemen, aber authentisch, emotional und gekonnt moderiert.
Die begleitenden Texte sind anfangs überwiegend nacherzählte Videos. Gut die Hälfte des 224-seitigen Buches überdeckt nur die ersten fünf Tage nach der Katastrophe – und überwiegend auch nur einen kleinen Ausschnitt des Ahrtals, den Bereich um Walporzheim. Das Buch lebt so von der brachialen Kraft der Bilder und Bewegtbilder der Zerstörung, der Erinnerung an die schlimmsten Momente. An Gerüche und kaum beschreibbare Szenen. Ich bin dankbar für einen noblen Filmer Wipperfürth, der stets fragte, ob er filmen dürfe. Und im Zweifel wegschwenkte.
Noch mehr ist ihm zu danken für einige schlimmste Szenen, die er in den Videos sowieso und im Buch weitgehend wegließ: etwa als zwei Leichname von Kindern in Kindersitzen in einem Auto gefunden wurden.* Seine Worte und einige kurze Absätze widmen sich dem Bergenden, der damit nicht klarkommt, ausgetauscht werden muss. Kein QR-Code, so muss das. Danke und gute Genesung.
Katastrophenhilfe überfordert
Im Kern enthält das Buch auch eine starke politische Aussage: Die Katastrophenhilfe des Staates war unmittelbar nach der Flutnacht überfordert, so der Vorwurf: Die Landwirte und Handwerker fühlten sich alleingelassen. „Wir sind im Prinzip allein auf weiter Flur, die Jungs zerteilen, andere laden, ich fahr‘ den Müll weg. … Mangels Offiziellen, die Entscheidungen treffen und organisieren, suchen wir uns kurzerhand selbst einen Ort, um den Müll abzuladen.“
Zum einen singen die Texte und Videos das Hohelied auf die Landwirte und Handwerker, die „einfach anpacken“ und „machen“ und angeblich „perfekt“ funktionieren, während Behörden angeblich untätig wenig auf die Reihe bekommen – und in einer Szene sogar Aufräumarbeiten behindern, als ein THW-Fahrzeug nur schwer auf einer engen Straße wenden kann und für lange Verzögerungen bei den Arbeiten der Freiwilligen sorgt. (Was allerdings auch beweist: Das THW war da.)
„THW, DRK, DLRG und wie sie alle heißen – zuhauf habe ich die Mitglieder der Blaulichtfamilie auf meinem Weg nach Walporzheim gesehen, doch zu uns scheinen sie es nicht geschafft zu haben“,
schreibt Wipperfürth über Tag 2 nach der Katastrophe.
Die Vorwürfe an „die da oben“ gehen teilweise ins Persönliche und Absurde. In einem Video fordert Wipperfürth von Umweltministerin Svenja Schulze: „Hallo Frau Schulze, ich hab’ grad gehört, dass Sie in Koblenz sind. Könnten Sie uns vielleicht ein Dixi-Klo organisieren? Das wäre nach zwei Tagen hervorragend. Vielen Dank für Ihre Mühen.“
Die Landwirte hätten sich Dixi-Klos dann laut dem Buch selbst organisiert.
An anderen Stellen allerdings konterkarieren Videos den Vorwurf, die Helfer seien tagelang auf sich allein gestellt gewesen. So zeigt ein Video ebenfalls von Tag 2 nach der Katastrophe einen Bundeswehrpanzer, der Schutt und Geröll von einer Straße beiseite schafft – im krassen Gegensatz zu dem Vorwurf, man sei von staatlichen Hilfskräften allein gelassen gewesen.
Auch ist im Text immer wieder vom Blaulichtflackern und von Feuerwehr und Polizei die Rede, ebenso von Geräuschen von Helikoptern. Das Video des Bundeswehrpanzers ist seinerzeit nicht live gesendet worden, sondern erst kurz vor Veröffentlichung des Buches auf Facebook eingestellt worden – und von Wipperfürth erst jetzt, kurz vor Buchveröffentlichung, online sogar mit einem Kommentar versehen worden: „Die Zusammenarbeit mit der BW funktionierte hervorragend.“ Ein Stück weit nimmt er die damals live veröffentlichte, nun verschriftlichte Kritik also auch wieder zurück. An anderer Stelle dokumentiert ein Gespräch mit einem „Major Dennis“ von der Bundeswehr von Tag 9 nach der Katastrophe, der sagt, die Koordination sei „bisher“ „sehr konfus“ gelaufen.
Gänzlich allein? Fraglich
Als Fazit entsteht der Eindruck: Viele Landwirte aus ganz Deutschland wurden auf Initiative Wipperfürths schnell zusammengerufen, erreichten das Ahrtal, entschieden vor Ort ohne Ansagen von Behörden, wo was freigeräumt werden müsste. Gänzlich „allein“ waren sie aber auch an den ersten Tagen nicht – die Blaulichtfamilie war da und in den Startlöchern, aber eben nicht an jedem Ort des Filmgeschehens.
Ein Teil der scharfen Kritik mag den Emotionen, dem psychischen und körperlichen Stress angesichts der schlimmen Zustände geschuldet sein. Und der verengten Sichtweise auf das eigene Tun, unter den Augen von Tausenden geschockter Zuschauer auf ihren Handys. Objektiv muss (hier) allerdings auch darauf hingewiesen werden, dass vereinzelt offizielle Helfertrupps etwa aus Norddeutschland das Tal unverrichteter Dinge wieder verließen, weil Einsatzbefehle fehlten.
Positiv fällt dagegen das Urteil von Wipperfürth über einen Besuch der damaligen Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner im Katastrophengebiet aus. „Eben noch ein Landwirt aus Pulheim, plötzlich Entscheidungsträger in der größten Naturkatastrophe in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg“, wundert sich Wipperfürth über die eigene Rolle nach der Kontaktaufnahme durch die Ministerin. Mehrere Screenshots dokumentieren die Hilfsangebote der Politikerin mit Sachgütern, „30 bis 50 Dixis“ und „150 JUlern“, die bereitstünden (am 19. Juli, also Tag 5). Ausweislich der gezeigten Screenshots reagierte Wipperfürth kurz mit einem „Sehr gut!“ – um dann zehn Monate später wegen der Buchveröffentlichung wieder Kontakt aufzunehmen.
Im begleitenden Video steht Klöckner einem Fernsehjournalisten, er in kurzer Hose, Rede und Antwort auf sehr kritische Fragen, sie macht einen kompetenten und pragmatischen Eindruck, sinngemäß: Jetzt helfen wir erst einmal denjenigen, die nur noch ein Nachthemd haben und nicht mal mehr eine Zahnbürste. Auch als sie nach dem offiziellen Interview von einem Anwohner scharf angegangen wird, reagiert sie bestimmt und energisch – sehr stark zum Gefallen von Wipperfürth.
„… in Klöckners Fall ist es mit einer kurzen Stippvisite und vollmundigen Versprechungen auch nicht getan. Neben all den essenziellen Dingen, die sie für uns beschafft, sollten wir bereits Stunden vor ihrem Besuch eine große Veränderung in Walporzheim wahrnehmen. Alle Organisationen, die wir bislang vermisst haben, scheinen sich plötzlich eingefunden zu haben. „Ich hab’ schon fünf Sanitäter gesehen, THW ist hier, Feuerwehr ist hier, jetzt hat sich anscheinend was getan.“
Im Buch wirkt es, als habe die Bundesministerin Entscheidendes bewirkt.
Hart angegangen werden dagegen Bundeskanzlerin Merkel (angeblich sind sehnlichst erwartete Toiletten statt in Dernau im Ort Schuld platziert worden, passend zum Besuch der Kanzlerin) und die Politik allgemein.
Die Rolle von Behörden
Ein ausführliches Kapitel widmet sich der Aufsichts- und Dienstleistungsdirektion (ADD). Laut Wipperfürth ist er selbst auf einer Liste der ungewünschten Personen gelandet, wird nicht mehr zu Pressekonferenzen der ADD zugelassen.
„… in den ersten zwei Wochen scheinen die freiwilligen Helfer nicht zu existieren, zumindest ist dies der Eindruck, den die PK immer wieder vermittelt. Vom heldenhaften Einsatz der Blaulichtfamilie ist immer wieder die Rede, doch Tausende von Land- und Forstwirten, Bauunternehmer sowie Privatleute, die Politikern und Blaulichtern in den ersten Tagen den Arsch gerettet haben, werden totgeschwiegen, waren nie da, existieren nicht – sind jedoch unauslöschlich in meinen Videos verewigt. Dabei hätte es lediglich eines Dankeschöns, einer Anerkennung, einer Wertschätzung bedurft. Für all die Menschen, die nicht wie Feuerwehr, DRK oder THW in Menschenrettung oder Katastrophenhilfe geschult sind, jedoch genau diese Aufgaben mangels genügend vorhandener Fachleute übernommen haben – freiwillig, kostenfrei und gerne.“
Geschildert werden kontroverse Zusammentreffen mit Vertretern der ADD. Zu einem Zeitpunkt fuhren 30 Traktoren zur Demonstration vor das Gebäude der ADD, „doch passieren sollte nichts“. An einer Stelle räumt Wipperfürth ein, dass es in einem der Gespräche sehr emotional zugegangen sei, „eben stand fast jeder, der dabei war, kurz vorm Weinen“. Kein Krisenstab der Welt hätte das mal eben alles hier regeln können, schreibt er dann. Man sei erleichtert, euphorisch und sichtlich emotional auseinandergegangen, ein Durchbruch für eine reibungslose Zusammenarbeit? Geändert habe sich danach jedoch: nichts.
Dem weiteren Text zufolge ging es dabei insbesondere um die „Kosten von Arbeiten“, und wie sie zu begleichen seien. Eine Wendung habe sich für ihn, Wipperfürth, durch Gregor Sebastian ergeben, den Ortschef von Walporzheim – endlich habe man einen Ansprechpartner gefunden. Wipperfürth schreibt, er habe 35.000 Euro für den monatelangen Einsatz seiner Maschinen in Rechnung gestellt, das Geld „decke natürlich nicht einmal im Ansatz die tatsächlich entstandenen Kosten.“
Andere Sichtweisen etwa von der ADD kommen nicht zu Wort, Hintergründe der Probleme bleiben auch in der Rückschau vage.
Where’s the beef?
Das Buch geht nicht journalistisch in die Tiefe und vermittelt nur wenige neue recherchierten Erkenntnisse. Es enthält die zu Papier gewordenen Videos, ergänzt um viele Gefühlsbeschreibungen des erkennbar traumatisierten Protagonisten.
Grobe Fehler sind aus meiner Beurteilung nicht im Buch erkennbar. Verbreitet wird aber – unjournalistisch, unwidersprochen – das Gerücht über eine dreistellige Zahl an Suiziden im Ahrtal, aus unbekannter Quelle. „Die Suizidrate ist hoch im Tal. Gerade bei den Älteren“, heißt es im Buch.
Nach einer offiziellen Angabe des Opferbeauftragten der Landesregierung, Detlef Placzek, die nicht im Buch vorkommt, waren es möglicherweise – jeder Fall ist schlimm genug – acht Fälle. Und auch wenn manch ein weiterer Suizid nicht als solcher erkannt worden sein könnte, so erscheint eine dreistellige Zahl als unseriös. Benannt werden solche Einschätzungen nicht.
Interessant ist, was das Buch des Weiteren nicht enthält und auch nicht in den durchaus vorhandenen Videos zeigt.
Ausgeblendet sind mehrere Schlüsselszenen der Geschehnisse im Ahrtal. Es fehlt, zumindest fand ich es nicht oder ist zumindest nicht hervorgehoben, das Video mit Landrat Gies an einem Samstag, an dem ein Baustoffzelt zum Unmut der Helfenden vor dem Rückbau stand und sich eine fast wütende Menschenmenge um ihn im Live-Video zusammenschloss, um den Abbau zu verhindern. Gies gestand dann vor laufender Kamera weitere Unterstützung zu. Das Video zeigte damals eine besorgniserregende Übermacht einer Social-Media-Öffentlichkeit. Kein großes Thema fürs Buch.
Ausgeblendet sind auch die Anwürfe und der Streit nach einem Artikel auf T-Online. Dort war einigen der Helfern ein „Besatzerkurs“ vorgeworfen worden, ausgelöst von recherchierten Äußerungen von örtlichen Entscheidern. In Videos wurden damals die Vorwürfe auch von Wipperfürth stark thematisiert, es entlud sich viel Hass und Hetze gegen den Journalisten Lars Wienand, Autor des Artikels (und früherer Kollege von mir bei der Rhein-Zeitung). Auf Social Media kam es zu einer Schlammschlacht. Offenbar kein Thema fürs Buch.
Kritische Beiträge und Hinterfragungen einer Bloggerin aus Bayern wurden auch immer wieder in den Videos thematisiert, finden jedoch nur am Rande Einlass in das Buch: Anwaltskosten in Höhe von 60.000 Euro seien aufgelaufen, schreibt Wipperfürth, wobei offen bleibt, gegen wen diese hohen Anwaltskosten nötig wurden. Ein weiterer kritisch fragender Blogger aus Mannheim, anfangs wohlgesonnen in der Helferszene empfangen und in der eingangs genannten Videoszene fürs Filmen von Wipperfürth wohlwollend angeleitet, wurde mit medialen Mitteln niedergerungen, als er viele Fragen nach der Entlohnung der führenden Helfer stellte und keine Antworten bekommen sollte. Auch das ist kein Thema fürs Buch.
Weiterhin ausgeblendet ist ein vorhandenes, aber im Buch nicht gefundenes Video über eine Auseinandersetzung mit einem anderen Helfer, der Wipperfürth Selbstdarstellung durch seine Videos vorwarf. Der Streit ist nur zu hören, der andere Helfer wollte sich nicht filmen lassen. Thematisiert wird diese Selbstdarstellung auch in der Rückschau so gut wie nicht, das Video war in der Masse der QR-Codes nicht zu entdecken.
Wechselnde Rolle vom Traktorfahrer zum Filmer
Die Rolle von Wipperfürth hat sich nach den ersten fünf Tagen gewandelt: vom ackernden, körperlich hart arbeitenden, transportierenden, telefonierenden Traktorfahrer zum Filmer. Körperlich offenbar angeschlagen (an einer Stelle in den damaligen Videos ist von einem Nabelbruch die Rede), verminderte er seine physische Arbeit und verstärkte er sogleich sein Tun auf Koordination und Kommunikation – wie kann man es ihm verdenken angesichts der geschilderten und sichtbaren harten Knüppelei. Auch hat er Nachwuchs in der Familie. Klug setzte er sein Talent für kurze öffentliche Aufrufe, fürs Vernetzen ein.
Das soll seine Rolle keineswegs schmälern, weniger gemacht und stattdessen mehr koordiniert zu haben, aber zumindest erklären. Spätestens nach acht Monaten nach der Katastrophe hat er sich mehr und mehr aus dem Ahrtal verabschiedet, aber weiterhin täglich live von seinem Gestüt in Pulheim live gesendet.
Die Bewältigung der Katastrophe, wie Wipperfürth sie sah
Nach Auskunft der Ghostwriterin Sandra Fischer war es das Ziel des Buches, Hass, Hetze und Schmutz weitgehend auszublenden. Und sich auf die Erlebnisse von Wipperfürth zu konzentrieren. Das Buch zeigt: die Ahrtal-Katastrophe, wie Markus Wipperfürth sie sah. Es zeigt nur einen Teil dessen: wie die Bewältigung der Katastrophe tatsächlich war.
So bleibt noch viel Platz für eine Fortsetzung der „Berichterstattung“: über die Geschehnisse späterer Tage in Form einer besser recherchierten Dokumentation mitsamt einer Darstellung anderer Sichtweisen; für ein weiteres neues Buch, für einen Film, vielleicht für eine Fernsehserie.
Es bleibt ebenfalls noch viel Platz neben Wipperfürth für andere Helfer, die nach und nach so wie er live gingen. Sandra Fischer kündigte Überlegungen für ein Hörbuch, ein E-Book, ein Kinderbuch und eine englische Übersetzung an. Als „packendes zeitgeschichtliches Dokument“ bezeichnet eine Pressemitteilung das Buch nun, auch der Preis von 34,95 Euro suggeriert eine hochwertige und vorgeblich journalistisch korrekte Aufarbeitung.
Fazit
Das aber ist es nicht. Es ist gedrucktes Facebook Live. Böse dargestellt, ist das Buch mediale Ausschlachtung. Gut gemeint, ist das Buch Sammlung und Annäherung an eine zu verschüttende, zu bewältigende Abfolge schlimmer Ereignisse. Manche Betroffene dürften damit nicht gut klarkommen.
„Schade, werde es nicht lesen können 😪😪😪“,
schrieb jemand am Morgen mit drei intensiven weinenden Emojis, als Wipperfürth einmal mehr live streamt, vom beginnenden Druck des Buches. Jemand anders ergänzte:
„ich kenne einige, denen es so geht“.
Es gab dafür zwei Daumen. Und jetzt hier eine Erwähnung. Vielleicht sind diese zwei wenigen Daumen die wichtigsten. Ausgelöst von Markus Wipperfürth, für eine neue Achtsamkeit. Viele weitere dürften für sein Werk, aber auch Interpretationen davon folgen.
- Ein Teil der Erlöse des Buchs soll Betroffenen im Ahrtal gespendet werden. Bestellbar ist „Wegen dir bin ich hier“ zunächst nur über die eigene Webseite https://wegendirbinichhier.de. Angekündigt ist es auch für den normalen Buchhandel. Dort war es allerdings zunächst nicht sichtbar oder auffindbar. 4000 vorab verkaufte Exemplare würden normalerweise einen Sprung in die Spiegel-Bestsellerliste bedeuten, ähnlich wie das Buch „Es war doch nur Regen!?“ des Ahrtal-Bewohners Andy Neumann, das sogar auf Platz 1 der Bestsellerliste landete. Allerdings ist bei Wipperfürths Buch zumindest fraglich, dass Verkaufszahlen aus dem eigenen Webshop mitgezählt werden.
Mail an den Autor: Marcus Schwarze, marcus@schwarze.info
*Nachtrag: Den hier im Buch beschriebenen und von mir in der Rezension als Fakt übernommenen Fund von zwei Kinderleichen hat die Nachrichtenagentur AFP bereits im vergangenen Jahr einem Faktencheckunterworfen – die Polizei dementierte demnach einen solchen Fund.
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