Die Vermessung der Welt 2023
App vermisst die Umgebung
Polycam heißt eine App, die die Welt neu vermisst. Vermisst im Sinne von vermessen, nicht vermissen. Auf dem Handy schwenkt man damit durch den Raum und sieht in Echtzeit mehr und mehr Polygone wachsen – Dreiecke also, die die Maschine auf jede Fläche in einem dreidimensionalen Raum legt. Und abspeichert.
Jedes Sofa, der Schrank, die Stehlampe und die Zimmerpflanze werden dabei erfasst. Durch bloßes Umherschwenken erkennt die App die solidere Struktur hinter den Schränken: Wände und Grundrisse, die Decken und Fußleisten, Türen und Fenster.
Am Ende ist die Wohnung als perfekter Grundriss erfasst, und der Blick wandert in den Mietvertrag: Stand da nicht etwas von 77 Quadratmetern? Die App errechnet nur 61! Gut, da fehlt wohl ein Nebenraum.
Auf dem Handy lässt sich die Wohnung nach fünf Minuten Arbeit virtuell betreten. Man kann sich umschauen, wahlweise in einer Architektur-Sichtweise oder mit den real aufgenommenen Beschaffenheiten der Oberflächen. Faszinierend.
App generiert Bilder aus Umgebungsdaten
Paragraphica heißt der Prototyp einer Kamera des Dänen Björn Karmann. Sie fotografiert nicht das Optische, sondern die im Netz vorliegenden Informationen über den Standort – und generiert dabei mit künstlicher Intelligenz aus vorgeschlagenen Prompt-Texten wiederum fiktive Bilder. Dabei spielen neben der Adresse das Wetter, die Tageszeit und Orte in der Umgebung eine Rolle. Die Kamera erzeugt so einzigartige Bilder, wie ein Blick auf die stark überlaufene Webseite des Erfinders in Amsterdam zeigt.
Nerd-Stoff. Aber wegweisend, wie das dritte Beispiel zeigt.
Brille sieht und interpretiert solche Daten
Apple Reality Pro soll eine neue Brille heißen, die am Montag vorgestellt wird und im Grunde die zwei Wenige-Euro-Apps und gewiss noch mehr mit Apple-Qualität ins persönliche Gesichtsfeld einblendet. Die Rede ist von einem Preis von 3.000 Dollar.
Wer schon mal mit Google Maps auf dem Handy in einer fremden Stadt als Fußgänger durch die Altstadt gelaufen ist, kann sich den Effekt ausmalen: In das Live-Video werden virtuelle Navigationspfeile eingeblendet und die Namen von markanten Gebäuden, samt antippbarer Infos. Das kann durchaus hilfreich sein.
Aber 3.000 Dollar oder Euro für eine Brille? Die das nicht mehr auf dem Handy anzeigt, sondern direkt vor den Augen?
Wir werden es erleben.
Neue Möglichkeiten
Über die Navigation hinaus gibt es dann womöglich eine App, die nach einem Blick in den Kühlschrank die Einkaufsliste aktualisiert.
Die nach dem „Lesen“ der ersten Seite eines Buches eine knackige Zusammenfassung anbietet.
Oder die nach dem Blick in den Spiegel einen Friseurbesuch vorschlägt oder einen Arztbesuch zur Hautkrebsvorsorge.
Connecting the dots.
Oder wie wär's mit einem Wahrheitsfilter? Beim Lesen mancher Tweets und Facebookbeiträge gibt es schon heute Einblendungen der Plattformen, dass andere Nutzer wichtige widersprechende Hinweise zum Wahrheitsgehalt hinzugefügt haben.
Eine Brille, die in Echtzeit das gerade Gesehene oder Gelesene oder Gehörte analysiert, kann vermutlich auch den nächsten Auftritt und die Vorhersagen von Richard David Precht bei Lanz im Fernsehen auseinandernehmen.
Umgang mit dem Vielmehr an Informationen
Wie wir mit diesem Viel und Vielmehr an Informationen umgehen und umzugehen lernen, ist eine andere Frage. Fakenews mögen auf den sozialen Netzwerken viral gehen und von seriösen Medien mittlerweile schnelle entlarvt werden.
In ein Bild der Realität eingeblendete Infos auf der Brille dürften dagegen weit mehr Überzeugungskraft erzeugen – da steht ja nicht nur, dass es dort einen Bankautomaten gibt, der ist sogar sichtbar. Aber ist er von einem seriösen Anbieter? Oder von einem Internetbetrüger?
Die Frage wird auch sein, ob es Apple gelingt, die Brille im Alltag verschwinden zu lassen: Schwarze Sichtfenster würden gewiss nicht vertrauenerweckend auf die Menschen in der Umgebung wirken. Transparente Gläser erscheinen mir Pflicht. Samt roter Sendeleuchte: Bin gerade live.
Die Welt ist keine Scheibe
Sind das alles fiktive und nur erdachte, wenig realistische Szenarien?
Wir konnten uns auch schon mal nicht vorstellen, dass das Wissen der Welt auf einer handflächengroßen Schreibe zugänglich wird. Und Menschen mit einer Scheibe in der Hand und starrem Blick darauf durch Fußgängerzonen laufen.
Oder dass die Welt keine Scheibe ist, ein paar Jahrhunderte zuvor.
Die Vermessung der Welt 2023 bedeutet einmal mehr die Vorstellung: Sie ist keine Scheibe.
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