Nächste Stufe der KI: Rewind macht fast alles durchsuchbar, was Du digital tust
Rewind, eine Software, erinnert mich an den älteren Kollegen, dem ich im zarten Alter von 26 als Volontär an den Katzentisch in seinem Büro in Hannover zugeordnet wurde: Sorgfältig heftete der Redakteur regelmäßig die Visitenkarten seiner Gesprächspartner der vergangenen Tage ab. Es war ihm ungemein wichtig, dem jungen Burschen Ähnliches beizubringen, von wegen journalistisches Kapital: Ein gut geführtes persönliches Adressbuch ist, wer weiß wann, nützlich.
Rewind macht Vergleichbares. Nur, ähm, größer.
Die Software klinkt sich in die Aktivitäten am Rechner ein. Sie zeichnet auf. Und zwar nicht nur das Gesprochene in Videokonferenzen. Sondern auch versandte und empfangene Mails. Aufgerufene Webseiten. Word-Dokumente und Präsentationen. Sämtliche gezeigte oder gesehene Bildschirminhalte.
Und zwar im Sekundentakt.
Rewind legt eine Texterkennung über die Bildschirminhalte. Sie transkribiert gesprochene Inhalte zu lesbaren Texten. Und legt sie in eine Datenbank. In drei Tagen kamen bei mir sechs Gigabyte an Daten zusammen.
Und sie macht sämtliche Inhalte durchsuchbar. In einfacher Sprache. Eine Künstliche Intelligenz eben (KI).
„Was habe ich am vergangenen Montag gemacht?“
Antwort Rewind: Sie haben eine Stellungnahme des Bistums Trier zum Fall Edmund Dillinger heruntergeladen. (Link zu den Screenshots)
Sie haben sich Informationen zur BUGA 2029 und zum Bloggen über das Mittelrheintal angesehen. (Link zu den Screenshots)
Sie haben eine E-Mail von [XY] erhalten und beantwortet. (Links zu den beiden Mails)
Sie haben den Text „E-Book […]“ bearbeitet. (Link zu dem Dokument)
Klar habe ich digital noch mehr gemacht, aber so ungefähr zumindest waren das die ersten Dinge des Tages. Die Frage lässt sich verfeinern und bringt sinnvolle Antworten: „Was habe ich mit [XY] gemacht?“ Die Maschine sucht für den Tag entsprechende Mails und Chat-Inhalte heraus.
Als das „perfekte Gedächtnis“ bezeichnen die Macher von Rewind ihre Software. Gegenwärtig funktioniert sie nur auf Macs mit neuestem Prozessor. Denn die Texterkennung auf den sekündlich erstellten Screenshots und die Spracherkennung von Tonaufnahmen erfordert besonders schnelle Prozessoren – mit eingebauten Funktionen der künstlichen Intelligenz, die Apple bereits hinterlegt hat. Angeblich erkennt die KI auch Motive in Bildern, wie Kevin Chen herausgefunden hat.
Von der Apple-KI im Programm „Fotos“ ist die Funktion bereits bekannt. Da zeigt die Suchen-Funktion nach „Elefant“ dann alle Bilder mit einem Elefanten, selbst wenn das Wort nirgends in den Metadaten oder Dateinamen enthalten ist – sondern das Tier nur zu sehen ist.
Was ist das für eine mächtige Suchen-Funktion für die eigenen digitalen Aktivitäten? In den Einstellungen erlaubt Rewind, die Daten „für immer“ zu speichern. Sprich: bis der Speicherplatz nicht mehr ausreicht. Wahlweise können auch eine Woche oder mehrere Monate oder ein Jahr eingestellt werden. Einzelne Apps können von der Speicherung ausgeschlossen werden, angeblich auch der Privatmodus von Browserfenstern (was allerdings nicht funktioniert).
Der Hersteller verspricht, Datenschutz zu beachten. Keine Tonaufnahmen oder Bildschirmfotos würden den eigenen Rechner verlassen. Jedoch widerspricht er sich bereits ein paar Sätze später: Um auf Fragen zu antworten, übermittelt Rewind die vertexteten Inhalte, auf einen Kern reduziert, an die Künstliche Intelligenz von Rewind im Netz und von dort weiter an OpenAI. Sicher ein Geht-ja-gar-nicht-Kriterium für Journalisten und viele andere. Dass Tonaufzeichnungen aus Videokonferenzen transkribiert werden, sollte mit jedem Teilnehmenden besprochen werden. Heimliche Tonaufnahmen sind strafbar.
Die Funktion aber ist mächtig. Rewind hat sich im Grunde als potenzieller Übernahmekandidat durch Apple positioniert. Das riesige Unternehmen hat in seinen Datenschutzerklärungen stets die Wahrung von Privatsphäre und Achtung des Datenschutzes hervorgehoben. Wenn die Kalifornier nicht selbst an etwas Großem zur persönlichen Durchsuchbarkeit von digitalen Erinnerungen arbeiten – hier hätten sie mit Rewind einen Kandidaten. Wenn jemand das Rewind-Modell datenschutzkonform weiterentwickeln kann, dann wäre es wohl Apple.
Überhaupt dürfte die Datenschutzgrundverordnung im gegenwärtigen Zustand ein gewichtiger Verbotsgrund für den Einsatz der Rewind-App in ihrem jetzigen Zustand in Europa werden. Und die Datenschutzregelung von Unternehmen erst recht. Wenn Geschäftsgeheimnisse den eigenen PC im Sekundentakt Richtung USA verlassen, dürften überall Alarmglocken klingen.
Andererseits gibt es eine reine Privatnutzung von Rechnern. Und ein naheliegendes Geschäftsmodell für Rewind und die Unternehmen könnte sein, die Daten auf eine unternehmenseigene KI zu begrenzen. Die illegale Überwachung von Mitarbeitenden steht dabei auf einem anderen Blatt.
Das „perfekte Gedächtnis“ wird so im Grunde nur durch die physikalischen Speichergrenzen von Festplatten begrenzt. „Woher kenne ich noch mal Georg XY?“, ist als Frage nach einer Freundschaftsanfrage gar nicht mal ungewöhnlich und von Rewind schnell beantwortet: Teilnehmer eines Lehrgangs im Jahr 2015.
Als hätte man sich damals eine Visitenkarte eingeholt und sie sorgsam abgeheftet.
Im Grunde entsteht so eine mächtige Suchenfunktion für die digitale Krimskramsschublade. Man stelle sie sich weiterentwickelt für das Handy vor: Wo hatte ich noch mal die Bilder von der kaputten und nun reparierten Brücke im Ahrtal gesehen, die für einen Artikel taugen?
In einer Webkonferenz war vor ein paar Wochen dies-und-das besprochen worden, wer hat da genau was gesagt und wie wurde es entschieden?
Oder: Zeige mir die jeweils fünf wichtigsten E-Mails, Snapchat- und WhatsApp-Nachrichten von XY, beurteilt nach der Zeit, die ich darauf verwendet habe.
Die Selbstoptimierung und Selbstvermessung geht mit dieser Art von künstlicher Intelligenz weiter. Sie erinnert mich (sic!) an Jill Price, eine US-Amerikanerin. Sie leidet und erfreut sich am Hyperthymestischen Syndrom. Das bedeutet: Sie kann nichts vergessen. Sie erinnert sich an jeden Tag seit dem 5. Februar 1980 – was in den Zeitungen stand und in der Welt passierte, was sie machte und fühlte. Alle guten und auch alle schlechten Sachen.
Rewind macht nun das gleiche, zumindest bei den digitalen Aktivitäten. Die nächste Tür, die hier einmal mehr die künstliche Intelligenz im rasanten Jahr 2023 öffnet, weist in eine neue Welt. Ob wir sie öffnen wollen oder nur einen Spalt weit, wird jeder anders beantworten – aber irgendjemand da draußen öffnet sie.
Du willst womöglich gar nicht so sehr an jedes Detail erinnert werden können. Doof, wenn das dann jemand anders für dich entschieden hat. Ein Recht auf Vergessen beinhaltet im Grunde auch eine Pflicht zum Vergessen für neue KI-Dienste.
Aber suchen Sie dafür mal die ladungsfähigen Adressen der Datenschutzbeauftragten auf den Webseiten von Rewind und Co. Oder diejenigen unter ihren Freunden, Kolleginnen und Geschäftspartnern, die solche Software bereits heimlich in Videokonferenzen und auf ihren eigenen Rechnern einsetzen und somit eine bald vollständige Sammlung der Kommunikation mit Ihnen durchsuchbar machen.
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